Die Welt der Kinder
Exklusiv-Interview mit Saskia Niechzial „Ich kann Eltern nur ermutigen, auf die eigene Stimme zu vertrauen.“ Die Grundschullehrerin, bekannte Bildungsaktivistin und Autorin Saskia Niechzial plädiert dafür, in der Unterschiedlichkeit neurodivergenter Kinder Potenzial zu sehen. Frau Niechzial, die wunderbare Wilma Wolkenkopf, die Protago- nistin Ihrer Kinderbücher, ist ein Kind mit Zippelzappelhänden und Sausegedanken. Sie ist ein neurodivergentes Kind. Was versteht man allgemein darunter? Neurodivergenz ist eine Art Sammelbegriff, der viele Ausprägungs- formen wie z.B. AD(H)S, das Autismusspektrum oder Legasthenie vereint. Es ist ein relativ junger Begriff, der es möglich machen soll, positiv über die vorhandene Vielfalt zu sprechen, mit der unsere Gehirne denken, wahrnehmen und fühlen. Lange Zeit wurde Verhalten von Kindern, die aus dem gängigen Erwartungsrahmen fallen, defizitär betrachtet, teils sogar als Krankheit betitelt. Und damit war die Haltung klar: „Das ist nicht gut, das müssen wir wegkriegen.“ Heute erkennt man neurologische Vielfalt besser an. Und ebnet damit den Weg, in dieser Unterschiedlichkeit auch das Potenzial zu sehen. Und genau das sollen Bücher wie Wilma Wolkenkopf neurodivergenten Kindern vermitteln – dass da auch ein besonderer Schatz in ihnen steckt. Sie haben ja spät, nach Ihrer Schulzeit, eine AD(H)S-Diagnose erhalten. Wie viel von Saskia steckt in Wilma? Meine Geschichte und auch die Geschichten so vieler Schul- kinder, die ich als Lehrerin bisher begleiten durfte, stecken in jedem einzelnen Satz. Es gibt in dem Buch z.B. eine Szene, in der sich Wilma, überfordert von einer reizintensiven Situation, vor dem Klassenraum unter ihrer Jacke versteckt. Genau an der Stelle saß ich selbst einmal. Das macht Wilmas Erzählung so echt und nahbar. Gleichzeitig war mir eines ganz wichtig: Wilmas Potenzial zeigen. AD(H)S macht manches anstrengend, aber bringt auch besondere Stärken mit sich. Und damit Wilma diese gut erkennen kann, habe ich ihr die Menschen an die Seite gestellt, die ich selbst als unerkannt neurodivergentes Kind gebraucht hätte wie z.B. eine unterstützende Therapeutin oder eine verständnisvolle Lehrkraft. Wie zeigt sich AD(H)S im frühen Kindesalter und was können Eltern tun, wenn sie diese Anzeichen bemerken? Es gibt nicht DAS Kind mit AD(H)S. Manchmal sind die Anzeichen sehr dezent, weil viele Kinder ziemlich gut darin sind, sich anzu- passen und nachzuahmen. Das gilt vor allem für Mädchen, wie erst kürzlich mehr in den Blickpunkt geraten ist. Hier richten sich viele Merkmale eher nach innen in Form starker Gedankenströme oder Ängste, während es bei Jungen eine stärkere Tendenz für nach außen gerichtete und darum stärker beobachtete Verhaltens- weisen gibt, auch wenn das natürlich nicht pauschal zutrifft. Meine Erfahrung ist aber ganz klar, dass viele Eltern früh ein sehr gutes Bauchgefühl dafür haben, dass das eigene Kind vielleicht mehr oder eine andere Form der Begleitung braucht. Dass sie beispielsweise auf deutlich mehr Unterstützung in der Regulierung ihrer Gefühle angewiesen sind. Oder dass Schlaf auch nach der Kleinkindphase ein zentrales Thema bleibt. Ich kann Eltern nur ermutigen, auf die eigene Stimme zu vertrauen und sich z.B. in der kinderärztlichen Praxis ersten Rat zu suchen oder therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Heutzutage bieten auch viele Inhalte auf Social-Media- Plattformen Möglichkeiten für Austausch. Auf Ihrer Website schreiben Sie: „Ich bin seit vielen Jahren Grund- schullehrkraft mit Herz und auf Augenhöhe. [...] Ich möchte etwas verändern. Möchte Staub vom Schulsystem pusten, mehr Licht und mehr Vielfalt hineinlassen.“ Wenn Sie die Möglichkeit hätten, an einem Grundschulkonzept mitzuwirken, welche Punkte würden Sie dort unbedingt unterbringen? Ich glaube, dass wir schon wirklich viel damit bewegen können, wenn wir unsere Haltung als Lehrkraft ändern. Und dieser Schritt muss vor jedem Konzept erfolgen. Sehe ich in Heftkritzeleien ein Desinteresse des Kindes oder doch vielmehr den kooperierenden Versuch, die Konzentration zu halten? Vermute ich hinter der Mütze auf dem Kopf sofort die Provokation oder doch eher einen möglichst unauffälligen Weg, sich kurz abzuschirmen? Wenn wir „Heute erkennt man neurologische Vielfalt besser an. Und ebnet damit den Weg, in dieser Unterschiedlichkeit auch das Potenzial zu sehen.“ 50
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